Archivierung ungleich Archiving
19. Juli 2019 12:37 Uhr | Dr. Ulrich Kampffmeyer | Permalink
Fachbegriffe haben häufig im Deutschen und Anglo-Amerikanischen unterschiedliche Bedeutungen, auch wenn sie auf den ersten Blick sehr ähnlich erscheinen. Dies gilt auch für “Archivierung” und “Archiving”.
Der deutsche Begriff “Archivierung” beschreibt eigentlich die ewige Aufbewahrung wichtiger, bewerteter Informationen. So sehen es z.B. das Bundesarchivgesetz und so ist die Perzeption bei Archivaren und Dokumentaren in Akademik, Archiven, Museen, Bibliotheken und Geschichtswissenschaft. Dieser Begriff hat wenig mit dem landläufig umgangssprachlich benutzten “Archivierung” zu tun. Man grenzt ihn daher auch gern als “Langzeitarchivierung” ab – eigentlich ein Pleonasmus. Der Begriff “Elektronische Archivierung” ist bei den bekannten deutschen Anbietern auch eher an die umgangsprachliche Bedeutung angelehnt. “Revisionssichere Archivierung” basiert ursprünglich auf den Vorgaben von Handels- und Steuerrecht und beschreibt die Aufbewahrung während der gesetzlichen Aufbewahrungsfristen – also vor der Langzeitarchivierung. Dazu gibt es im Deutschen noch weitere Begriffe, die zur Verwirrnis beitragen.
In den USA hat der Begriff “Archiving” im Informationsmanagement eine ganz andere Bedeutung. Er ist näher am Thema “Datensicherung” und “Sicherung von Informationsbeständen”. Archivierung heißt dort “Preservation” und für elektronische Inhalte dann “Digital Preservation”. Letzterer Begriff entspricht dann der Langzeitarchivierung im Deutschen. Die Aufbewahrung während der laufenden Aufbewahrungsfristen vor der “Preservation” ist ein Thema des “Records Management”. Der deutsche Begriff “revisionssichere Archivierung” entspricht daher am Ehesten dem “Records Management” in Verbindung mit nur einmal beschreibbaren Speichern. Im AIIM-Modell für ECM Enterprise Content Management wäre der “revisionssicheren Archivierung” dem “Records Management” und “Store” zugeordnet. “Archivierung” dann im Bereich “Preserve”.
“Archivierung” im Deutschen und “Archiving” im Anglo-Amerikanischen sind also zwei verschiedene Dinge.
Dies erklärt auch, warum in Marktuntersuchungen von Analysten-Unternehmen zum Thema “Information Archiving” Anbieter auftauchen, die wie in Deutschland bei diesem Thema nicht erwarten würden. Die Funktionalität ist eine andere und auch das Marktsegment ist abweichend definiert. Es entspricht weder “Content Services” noch “ECM” noch “Digital Preservation” noch “Records Management” noch “Document Management”. Wir nehmen als Beispiel einmal die aktuelle Studie von THE RADICATI GROUP, INC. ” Information Archiving Market Quadrant 2019” (die lange Version “Information Archiving Market, 2019-2023” ist bei Radicati nicht ganz billig, aber es gibt den Quadranten “Information Archiving Market Quadrant 2019” von verschiedenen Anbietern in komprimierter Form zum Download). Der Market Quadrant stammt vom Februar 2019.
Information Archiving Market Quadrant 2019
Bei Radicati geht es ausschließlich um elektronische Informationen. Glücklicherweise hält sich Radicati nicht mit der Trennung in kodierte Daten und nicht-kodierte Dokumente auf, sondern betrachtet alle Informationsobjekte, die als Dateien in den Systemen vorliegen. Radicati beschreibt das Marktsegment dementsprechend wie folgt:
“Information archiving solutions provide interactive, secure long-term storage of electronic business content, including: email, instant messages, social media, file systems, SharePoint content, and a broad range of other structured and unstructured information. In addition to archiving, these solutions must also provide fast, easy search and retrieval of information, and allow organizations to set granular retention policies which provide the foundation for Supervision, eDiscovery, Legal Hold, Data Loss Prevention (DLP), and Information Governance.”
Die Definition von Radicati für betrachteten Lösungen lautet:
“Information Archiving – are solutions which provide interactive, secure long-term storage of electronic business content, including: email, instant messages, social media, file systems, SharePoint content, and a broad range of other structured and unstructured information. These solutions are delivered as on-premises products, appliances, or as cloud services.”
Diese Definition entspricht nicht dem akademischen Begriff der “Archivierung” noch dem Begriff der “revisionssicheren Archivierung”. Es geht eher um “Datensicherung”. Auch wenn die Anwendungsgebiete, die Radicati aufführt, deutlich im Umfeld der revisionssicheren Archivierung deutscher Prägung und im Bereeich der Information Governance generell liegen:
- “Compliance with Regulatory Requirements – organizations in heavily regulated industries are required to retain and preserve electronic information to meet government and/or industry regulatory requirements.
- Litigation – during internal and external legal proceedings, organizations will need to efficiently search, discover, and retrieve all pertinent information.
- Internal Corporate Policies – many organizations have large amounts of electronic content that needs to be managed and disposed of according to internal corporate policies.
- Leveraging Information through Content Analytics – organizations are increasingly using information archiving solutions to provide valuable insight into their stored data.
- Data and Information Security – information archiving solutions help secure information in a long term repository, where content can be easily restored in the event of a disaster or during any planned or unplanned downtime.
Diese Definition führt dazu, dass sich im Market Quadrant Unternehmen wiederfinden, die man in Deutschland nicht zur Szene der elektronischen Archivierung rechnen würde: Barracuda Networks, Google, Jatheon, Micro Focus, Microsoft, Mimecast, OpenText, Proofpoint, Smarsh, Veritas, und andere. Im Quadranten werden diese Anbieter in vier Gruppen eingeteilt (eine nicht besetzt; Quelle des Quadranten Micro Focus):
Als Top Player werden Micro Focus, Veritas, Mimecast und Smarsh gelistet. Proofpoint gilt als Mature Player. Bei den Spezialisten finden sich OpenText, Jatheon, Microsoft, Barracuda und Google. Unter dem Gesichtspunkt elektronischer oder revisionssicherer Archivierung mit Index-Datenbank und Records-Management-Funktionalität ist eigentlich nur OpenText dabei. Hier werden auch die unterschiedlichen Strategien der Erschließung und Aufbewahrung international deutlich, wie sie sich z.B. auch beim Records Management als in Deutschland “halb vergessene” Disziplin zeigen.
Für dieses Marktsegment schätzt Radicati die weltweite Entwicklung sehr positiv ein. Ende 2019 sollen es bereits 5,5 Milliarden US$ Umsatz sein. Für 2023 werden 8,8 Milliraden US$ Umsatz prognostiziert. Die Details dazu gibt es nur in der teuren Gesamtstudie.
Inhaltsverzeichnis des Radicati Information Archiving Market Quadrant 2019 (ca. 40 Seiten Inhalt):
- radicati Market Quadrants explained
- Market Segmentation – Information Archiving
- Evaluation Criteria
- Market Quadrant Information Archiving
- Key Market Quadrant Highlights
- Information Archiving Vendor Analysis (mit allen gelisteten Anbietern)
- Top Players
- Specialists
- Mature Players
In dem Maße wie sich durch Cloud und die direkte Integration von Archivierungsfunktionalität in Anwendungen verändert hat, muss nun auch diese Marktentwicklung zukünftig berücksichtigt werden. Sie setzt sehr stark auf Automatismen der Sicherung und Zuordnung. Der wahlfreie gezielte Zugriff auf einzelne Dokumente über Metadaten steht hier nicht im Fokus. Jedoch wird durch Analytics, Artificial Intelligence, Blockchain und Volltextsuche hier noch einiges an Veränderungen kommen.
Records Management vs. Archivierung
Vielen Dank für die Erklärung der verschiedenen Begrifflichkeiten rund um die Archivierung. “Data archiving” gleich “Backup” ungleich “Archivierung” – das kann schon zu Konfusion führen …
Für mich ist beim Vergleich von Records Management und Archivierung ein weiterer Unterschied interessant:
– Der Records Manager handelt im Auftrag. Bei Records steht am Ende überwiegend die Vernichtung, wenn die Aufbewahrungsfrist abgelaufen ist und der eigentliche Records Owner seine Zustimmung gibt. Bei flexiblen Fristen, die also zum Beispiel durch ein Ereignis wie das Erlöschen der letzten Zulassung eines Arzneimittels weltweit ausgelöst werden, kann das auch schon mal ganz schön dauern.
– Der Firmenarchivar übernimmt dagegen komplett die Verantwortung für das ihm übergebene Material und bestimmt selbständig, was aufgehoben wird. Interessant sind insbesondere aggregierte Information, die zuvor gar nicht unbedingt aufbewahrungspflichtige Records gewesen sein müssen. Die Aufbewahrung erfolgt unbefristet.
Dem Data Owner sollte also schon klar sein, an wen er seine Unterlagen übergibt …
Firmen-Archivar? Records-Manager? In Deutschland?!
Schöne Wunschvorstellung. In den meisten deutschen Unternehmen gibt es weder den Firmen-Archivar noch den Records Manager (ein paar Großunternehmen und regulierte Branchen ausgenommen).
Wenn ausnahmsweise beide vorhanden sein sollten, gibt man es erst dem Records Manager und der exportiert es dann zwecks Langzeitarchivierung zum gegebenen Zeitpunkt dem Archivar in seinen Posteingangskorb. Aber auch das ist so eine Wunschvorstellung.
Aber diese Jobs, der Records-Manager und der Archivar, werden zukünftig sowieso von einer KI Künstlichen Intelligenz übernommen. Gerade alles was regelbasiert, ordnend, klassifizierend, beschreibbar ist, wird als Job den Menschen weggenommen und den Maschinen gegeben. Dann braucht es nur noch den Information Manager, der die Regeln kontrolliert, die Lösung überwacht, den Schutz und die Verfügbarkeit sicherstellt, und die Information allen Berechtigten geeignet nutzbar macht.